Graue, trübe Welten

Es ist etwa zwanzig nach fünf, und laut meinem groben Zugplan des (hoffentlich) Schwesterzuges in zwei Wochen sind wir kurz vor Nihzny Novgorod.

Vor dem Bahnhof selbst, ein surreal ausgedehntes Ding aus gefühlt einer Million halb abgewrackter Güterwagons, durchfährt man ein ebenso ausgedehntes Industriegebiet, bei dem es schwer faellt, den Russen nicht gleich generell jeglichen Sinn für Ästhetik abzusprechen. Oder auch mir ein Mindestmaß jenes Gefühls zuzubilligen, das klarmacht, dass halbverfallene Industriebauten außerhalb gekonnter Schwarzweissfotografie nur wenig Reiz bieten.
Oder, einfacher gesagt, irgendetwas, das verhindert, dass der erste Gedanke ist: 'meine Güte, ist das alles hässlich.'

Riesige verrostete Schornsteine auf Wellblechhallen, bei denen ein Drittel der Verkleidung fehlt. Fabrikshallen, die nur noch aus einem Skelett aus Metallstangen und Resten von Ziegeln besteht. Baulich intakte Gebäude, die vom Rauch geschwaerzt und mit den Ablaufspuren eines Regens aus einer Zeit bedeckt sind, In der Schadstoffbegrenzungen keine Bedeutung hatten.

Alles ist grau und trist, verfallen und vergilbt, verrostet und verwittert. Alte Fabriksgebäude ragen auf wie halbverweste, seltsam metallene Urzeitwesen, vergangen und tot, Relikte einer wenig wünschenswerten Zeit. Manche von ihnen, in kaum besserem Zustand, sind noch in Betrieb - hie und da fährt ein Lastwagen über ein Fabriksgelände, und ein Schornstein raucht einsam vor sich hin.

Dazwischen gibt es Wohngebiete, in denen sich Häuser mit Dächern, die an schlecht sitzende Hauben erinnern, ängstlich an den Boden ducken. Sie machen denselben gleichgültig verwahrlosten Eindruck, jenen, der schon die Moskauer Vororte kennzeichnet. Immer besteht das Gefühl, dass man das schon besser machen könnte, schöner machen könnte. Wenn es denn nur jemanden interessieren würde. Aber so bröckelt das bisschen Farbe, verrosten die Garagentore, ziehen sich Wasserspuren wie dunkle Tränen über ohnehin dreckige Hausmauern.

Die Stadt selbst besteht aus den erwarteten, zehn- bis zwanzigstöckigen Blockbauten in schmutzigen Grau. Kolosse aus unverputztem mittel bis dunkelgrauen Beton. Die Fensterrahmen, die vor Jahrzehnten einmal weiß gewesen sein mochten, erscheinen in einem seltsam widerwärtigen gelblichen grau. Die Fensterflächen erscheine wie aus vergilbtem Plexiglas und die sichtbaren Ecken der schäbigen Balkone weisen auf Schimmel hin. Der allgemeine Eindruck des Verfalls und der Gleichgültigkeit noch dadurch unterstrichen, dass alles zwar ziemlich im Lot ist, aber eben nicht ganz. Kanten sind niemals ganz gerade, niemals ganz parallel, eben genauso gebaut wie bewohnt und erhalten: gerade eben gut genug.

Position:Nihzny Novgorod

Kommentare

  1. ..die abatoßenden Fassadenablicke der Wohn und Industriebauten Russlands, die ihr in den ersten Tagen gesehen habt, erzeugen in mir die Neugier, wie das Innenleben wohl gestaltet ist? Bestätigt sich die Vermutung, dass die Wohnungen und Fabrikräume häßlich und noch häslicher sind?
    lg rob

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  2. Leider weiß ich das auch nicht. Die Hostels, in denen wir waren, sind verglichen mit unseren natürlich Substanzen, aber sie waren alle sauber und halbwegs in Schuss. Andererseits hatten wir auch ein wenig recherchiert gehabt, und waren auch nie in einem dieser wirklich abstossenden Gebäude aus Chrustschows Tagen. Von allem das ich gesehen habe würde ich aber sagen: ja. Genauso hässlich.

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